Von Träumen über die Jahrtausende – On dreams of Millennia

Verkörperte Zeit, Embodied Time, Text von Rona Kobel, Kalender der Jungen Akademie 2023

Weibliche Tonfigur aus Thessalien, frühes und mittleres Neolithikum, 6500–5300v.d.Z.

VERKÖRPERTE ZEIT
Von Träumen über die Jahrtausende
Rona Kobel

„Wenn Sie schon längst tot sind, stehen ihre Arbeiten hier immer noch im Schrank.“ Trotz dieser eigentlich frohen Botschaft war mir unwohl zumute, als ich diesen Satz vor einiger Zeit aus dem Mund der damaligen Betreuerin der Keramiksammlung des Stadtmuseums Berlin hörte. Plötzlich war ich mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, und dies im Kontrast zur (möglichen) Unsterblichkeit einer Reihe lebloser Objekte aus Porzellan.
Denn im Unterschied zu vielen anderen Materialien kann dieses Gemisch aus Kaolin, Feldspat, Quarz und Wasser, die genaue Rezeptur ein Geheimnis, das Arkanum jeder Manufaktur, Jahrtausende überdauern. Die Herstellung gleicht einem archai- schen Verfahren, einem Prozess der Elemente, dessen Abschluss das große Feuer bei über 1400 Grad bildet. Hat ein Objekt die Feuerprobe bestanden, ist es bereit für die Ewigkeit.
Eines der Werke, die nun also in einem kühlen Lagerraum in einem Metallschrank in Berlin-Spandau stehen – sicherlich nicht für die Ewigkeit, denn für diese ist der Mensch in seiner kriegerischen Gier nach Macht und Reichtum nicht geschaffen – ist eine Allegorie der Europa aus dem Jahr 2016. Die Figur, die eben im Begriff ist, sich einen Dolch ins Herz zu stoßen, geht in Aus- sehen und Gewandung auf die 1904 für die Königliche Porzellan- manufaktur Berlin erstellte Figur von Adolf Amberg zurück: Er zeigte Europa im mythologischen Sinne im Moment der Entführung durch den als Stier verkörperten Zeus. Interessant ist, dass Amberg Europa nicht, wie in anderen Abbildungen der Zeit üblich, dramatisch als wehrlos geraubtes Opfer darstellte, sondern aufrecht und anmutig auf dem Rücken des Stiers reitend. Amberg, der selbst noch vor seinem 40. Lebensjahr verstarb, sah Europa 1904 in einem erhabenen Licht. Viel ist geschehen in diesen 112 Jahren dazwischen und nun, 2022, steckt wieder ein barbarischer Dolch im Herzen Europas.
So erinnere ich mich, wenn ich an das Überdauern von Objekten denke, auch an Edmund de Waals Roman Der Hase mit den Bernsteinaugen, in dem er das Schicksal seiner jüdischen Familie vor und während des Holocausts anhand einer Sammlung japani- scher Schnitzfiguren zurückverfolgt: „Dass die Netsuke in Annas Tasche überlebt haben, ist ein Affront. […] Warum sollten sie den Krieg in einem Versteck überlebt haben, wo es so vielen Menschennicht gelungen ist?“(*) Ein solche Verletzung steckt zweifelsohne in vielen Kunst- und Kulturgegenständen, fungieren sie doch auch als eine Art stumme Zeitzeugen. Angefangen von ihrer Schöpfung über den Wechsel von Besitzern und Aufbewahrungsorten, füllen sie ihre erstarrten Seelen mit Zeit. Wessen Augen haben sie betrachtet, wessen Hände haben sie berührt?
Als Ausdruck ihrer jeweiligen Epoche stellen sie letztendlich eine Verbindung zwischen den Zeiten her, die uns hilft zu definieren, wer wir sind. So ist es kein Zufall, dass im aktuellen Krieg gegen die Ukraine ein Teil von Russlands Strategie darauf abzielt, kulturelle Einrichtungen anzugreifen, Kulturschätze zu zerstören oder zu plündern und sogar leitendes Personal zu verschleppen.
Russland versucht das kulturelle Gedächtnis und die kulturelle Identität der Ukraine auszulöschen.
Trotz der recht kurzen Unabhängigkeit des Landes geht dessen kulturelles Erbe, welches die Ukrainer mit einem Mut verteidigen, der seinesgleichen sucht, weit zurück und spannt den Bogen bis zu den ersten osteuropäischen Urstädten um 4.000 vor der Zeitrechnung. Schon die Siedlungen der Cucuteni-Tripolje- Kultur in Taljanky und Maydanets’ke waren nach der Vermutung einiger Wissenschaftler*innen wohlgemerkt basisdemokratisch organisiert. In den archäologischen Fundstätten wurde reich ver- zierte Keramik gefunden, und auch wenn die frühesten Keramikfunde weltweit noch viel weiter, nämlich 25.000 bis 30.000 Jahre zurückgehen, sprengt dieser Zeitraum von mehr als 6.000 Jahren den vorstellbaren Rahmen meiner Zeit aufs Weiteste. Dies ist auch der wunderbaren weiblichen Tonfigur aus Thessalien aus der Zeit 6.500 bis 5.300 vor der Zeitrechnung gelungen, deren Abbild ich seit einigen Wochen auf meinem Schreibtisch betrachte.
Sie stellt für mich den Inbegriff der fühlbaren Zeit dar und ich frage mich, was wohl der älteste Gegenstand war, den ich je in der Hand halten und berühren durfte? Wie alt sind Steine am Strand? Wie alt ist das Meer? Es erscheint mir fast selbstverständlich, dass ich etwas sehr, sehr altes von Menschen Gemachtes, ertasten durfte, aber das muss quasi eine optische Täuschung sein – ich komme über das vorletzte Jahrhundert nicht hinaus. Sehen und Fühlen sind zwei grundlegend unterschiedliche Erfah- rungen, eine wertvolle Einsicht in unserer digitalen Zeit. Und so weckt der Anblick dieser uralten Tonfigur vor allem eine große Sehnsucht in mir. Ich möchte sie halten, streicheln, in ein kleines Bettchen legen und zudecken und ihren Träumen über die Jahrtausende lauschen.

* Edmund de Waal, Der Hase mit den Bernsteinaugen: Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi. München, dtv Verlag 2015, S. 312f.

 

Kann der Kalender zu einer Möglichkeit werden, uns an unsere existenzielle Einbettung in den Lauf der Natur zu erinnern?
Der Buchkalender 2023 der Jungen Akademie mit dem Titel 2023 – one day, one day at a time lädt über seine organisatorische Funktion als Jahresplaner hinaus dazu ein, über die Zeit und ihre Muster als integrale Bestandteile allen Lebens auf der Erde nachzudenken.
In sieben Textbeiträgen antworten Mitglieder und Alumnae der Jungen Akademie aus verschiedenen fachlichen und künstlerischen Perspektiven auf ein jeweils speziell für sie ausgewähltes Artefakt und setzen sich mit der Bedeutung, der Qualität und dem Erlebnis von Zeit auseinander:

VERKÖRPERTE ZEIT Von Träumen über die Jahrtausende
Rona Kobel

GEMEINSAME ZEIT Vom Miteinander-Verknüpftsein
Michael Bies

TRANSKULTURELLE ZEIT Von palimpsestischen Artefakten
Isabelle Dolezalek

THEOLOGISCHE ZEIT Vom Anfang und dem Nichts
Senthuran Varatharajah

ZYKLISCHE ZEIT Über die Periodizität von Tätigkeiten in der Agrarwirtschaft
Hermine Mitter

PERFORMATIVE ZEIT Vom Navigieren und der Nacht
Racha Kirakosian

KOSMISCHE ZEIT Von Brüchen und Kontinuitäten
Anna Lisa Ahlers

Begleitet werden die wissenschaftlichen und künstlerischen Impulse von Auszügen aus Mesmerizing Mesh, der neuesten Serie von Papierarbeiten der in Berlin und Seoul lebenden Künstlerin Haegue Yang, die in der Auseinandersetzung mit dem Handwerk des Scherenschnitts und schamanischen Praktiken die Verbindung zwischen Materie und Spiritualität untersucht. Mit überschwänglichen Titeln wie Barbell-Powered Sunrising Soul Sheet Atop Another oder Butterfly Windblast Arrow Formation tanzen Yangs verschlungene geometrische Muster in einem Spiel von zehntausend Dingen weiter – wie ein Kaleidoskop, das Abstraktion und Form vereint. Diese Kunstwerke laden uns dazu ein, darüber nachzudenken, wie sich das Eine in das Vielfache faltet, während das Vielfache das Eine umschließt, und erweitern unser kulturelles Wissen über lebendige Konfigurationen, Zeitlandschaften und kosmische Erscheinungen.

 

Kalender 2023 der Jungen Akademie
Hrsg. Die Junge Akademie
Textbeiträge in Deutsch und Englisch
Akademisches monatliches Kalendarium von Oktober 2022 bis März 2024
K-Verlag
Gestaltung: Wolfgang Hückel & K. Verlag
Preis: 29 Euro
ISBN: 978-3-947858-48-4

Erhältlich im Buchhandel und unter: k-verlag.org

 

EMBODIED TIME
On Dreams of Millennia
Rona Kobel

“When you’re long dead, your work will still be here in the cabinet.” Despite the attempt to be cheerful, I felt uneasy when I recently heard these words from a curator of the ceramics collection at the City Museum Berlin. Suddenly I was confronted with my own mortality—and this in the face of the (possible) immortality of a series of inanimate objects made of porcelain.
Unlike many other materials, this mixture of kaolin, feldspar, quartz, and water—the exact recipe a secret, the arcanum of every manufactory—can endure for thousands of years. The whole production is an archaic procedure, a process of the elements, culminating in a scorching fire of over 1,400 degrees. Once an object has passed the test of fire, it is ready for eternity.
One of the works now standing in a cool stor- age room in a metal cabinet in Berlin-Spandau— certainly not for eternity, because people in their belligerent greed for power and wealth are not made for it—is an allegory of Europa from 2016. This figure, which is about to plunge a dagger into its own heart, is based, in appearance and dress, on a figure by Adolf Amberg, created in 1904 for the Royal Porcelain Factory Berlin: he portrayed Europa mythologically, at the moment of her abduction by Zeus disguised as a bull. Interestingly, Amberg did not depict Europa dramatically as a defenseless, captive victim, common in other illustrations from that time, but as riding upright and gracefully on the bull’s back. In 1904, Amberg, who died before the age of 40, saw Europe in an exalted light. Much has happened in the intervening 112 years, and now, in 2022, a barbaric dagger is once again lodged in Europe’s heart.
When I think about the relative permanence of objects, I am also reminded of Edmund de Waal’s novel The Hare with Amber Eyes, which follows the fate of his Jewish family before and during the Holocaust through a collection of carved figures from Japan: “The survival of the netsuke in Anna’s pocket…is an affront. […] Why should they have got through this war in a hiding-place, when so many hidden people did not?”1
Such injustice is certainly to be found in many art and cultural objects, especially because they often also function as silent witnesses to historical events. From the moment of their creation, although they change owners and repositories, their solidified souls are filled with time. Whose eyes have gazed upon them? Whose hands have held them?

As expressions of their respective eras, they ultimately provide a link across different times, helping us define who we are. It is, therefore, no coincidence that in the current Ruso-Ukrainian war, Russia is also attacking cultural institutions, destroying or looting cultural treasures, and even abducting senior personnel. Russia is trying to erase Ukraine’s cultural memory and cultural identity.
Despite the country’s rather brief independence, its cultural heritage, which Ukrainians are defending with tremendous courage, dates back quite a long time, to the first Eastern European protocities in around 4000 BCE. According to some researchers, the settlements of the Cucuteni–Trypillia culture in Taljanky and May- danetske were already organized in a democratic way. Richly decorated ceramics were found in archaeological sites, and even though the ear- liest ceramic finds in the world are much older, namely 25,000 to 30,000 years old, this period of 6,000 years far exceeds my imaginative grasp of time. So does the wonderful female clay figure from Thessaly, estimated to be from 6500 to 5300 BCE, whose image on my desk I have been looking at for a few weeks.
For me, this figure is the embodiment of tangible time and leads me to wonder: what was the oldest object I have ever held in my hand? How old are the rocks on the beach? How old is the sea? It seems almost self-evident that I have touched something very old and human-made, but this must be an optical illusion, so to speak, as I’m unable to recall anything beyond the century before last. Seeing and feeling are two fundamentally different experiences, a valuable lesson in our digital age. And so, the sight of this ancient clay figure awakens a great longing in me. I want to hold her, caress her, put her in a little bed, tuck her inside it, and listen to the dreams of millennia.

1 Edmund de Waal, The Hare With Amber Eyes: A Hidden Inheritance